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Leidbild „Viele“ – Deutschstunde mit VRR

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Manche Musiker oder auch Fans gehen davon aus, dass bedeutungsschwere Inhalte am besten in Form von Balladen transportiert werden können. „Viele“ von Leidbild ist ein gutes Gegenbeispiel für diese Theorie. Zwar gibt es den Song zwischenzeitlich auch als Akustik-Version, die Botschaft war aber auch schon vorher in der rockigen Variante vorhanden. 

Aber wovon handelt der Song überhaupt? Dazu später mehr. Schauen wir uns zunächst den Aufbau an, der schon sehr interessant ist, da sich Sänger Chriss direkt an einen imaginären Gesprächspartner wendet, dem er etwas Wichtiges zu erzählen hat: „Bitte, hör mir genau zu, ich möchte dir erzähln von Menschen die eine tiefe Leere spür’n. Bitte, hör mir genau zu, es gibt da Menschen die sich quäl’n und ein Leben voller Zweifel führ’n.“.  Damit adressiert er seinen Monolog direkt an die Hörer, die dadurch vielleicht der ernsthaften Problematik mehr Gehör schenken, die er ohne Umschweife anspricht. 

Neuigkeiten? Eigentlich nicht 

Interessant ist auch, dass er es zunächst so darstellt, als würde er dem Hörer etwas vollkommen Neues erzählen, von einer seltenen Spezies Mensch, die diesem bisher womöglich noch gar nicht begegnet ist„Hast du von denen schon gehört, die in ihren Gedanken wühl’n voller Sorgen, wenig was noch zählt? Hast du von denen schon gehört die sich wertlos fühl’n – verblasste Farben, eine graue Welt?“. In Form von Fragen beschreibt er den Alltag dieser Menschen und wie sie die Welt wahrnehmen und bringt dabei auch ein, dass man sie eben nicht unbedingt sofort erkennt, auch wenn sie direkt vor einem stehen. Die Beschreibungen in den Fragen sind dabei so stark und treffend gewählt, dass jedem ziemlich schnell klar sein müsste, dass „Viele“ von depressiven Menschen erzählt.  Dabei wird weder beschönigt noch dramatisiert, sondern eher eine Art Bild gemalt – aus der Perspektive der Personen, die an Depressionen erkrankt sind.  

Volkskrankheit, kein Minderheitenphänomen 

Eine Besonderheit des Textes ist, dass er darüber aufklärt, dass es sich bei depressiven Menschen nicht um eine Randgruppe handelt, sondern um „viele, viele, viele, die mitten in der Gesellschaft leben und die man nur deshalb nicht sofort erkennt, weil sie sich eine „perfekte Maskerade“ zugelegt haben. In Deutschland gibt es etwa 4,1 Millionen Erkrankte. Es handelt sich also keineswegs um eine Minderheit. Die Dunkelziffer könnte allerdings noch wesentlich höher sein, da die Diagnose oft ein Stigma darstellt und die Betroffenen den Gang zum Arzt vermeiden, weil sie sich wie im Songtext beschrieben, für ihre Krankheit schämen. 

Das Frage-Antwort-Spiel des Textes gewinnt mit der Zeit zunehmend an Intensität. Der Hörer wird beinahe so in die Thematik hineingezogen, wie es den Betroffenen mit ihrer Krankheit geschieht. Man spürt vor allem auch die Isolation und Resignation, die durch Depressionen entstehen: „Kennst auch du dieses Gefühl, dass dir nur Tränen bleibn. Doch auch das Weinen nicht mehr geht? Kennst auch du dieses Gefühl seelisch gefangen zu sein – kein Ausbruch möglich, niemand da, der dich versteht?“.

Die Depression entzieht den Betroffenen also nach und nach nicht nur alle Lebensfreude, sondern auch die Lebenskraft. Es ist nicht so, dass Depressive ständig heulend in irgendeiner Ecke stehen, sondern vielmehr so, dass den Kranken irgendwann selbst das Weinen nicht mehr möglich ist, weil dazu die Kraft fehlt. Und da sie das Gefühl haben, irgendwas würde mit ihnen nicht stimmen, ziehen sie sich von der Außenwelt zurück und lassen niemanden an ihrem Leid teilnehmen. Die Einsamkeit verstärkt allerdings die Probleme, da sich das Gedankenkarussell so ungehindert drehen kann.  

Gefangen in Freudlosigkeit 

Das Adjektiv „gefangen“ beschreibt die Situation von Depressiven wirklich sehr treffend.  Auch wenn sich die Betroffenen in Gesellschaft befinden, sind sie dennoch oft alleine in ihrer eigenen Welt, die immer dunkler wird.  So sehr sie es auch versuchen, sich daraus zu befreien, diesen Kampf können sie ohne Hilfe von außen kaum gewinnen. Deshalb ist es sehr wichtig, dass Außenstehende genau hinsehen. 

Zum genauen Hinsehen ruft der Song darum auch auf. Dies geschieht zum einen durch das bereits erwähnte Frage-Antwort-Spiel und zum anderen auch durch Hinweise, wie den, dass die Schreie der Betroffenen „stumm und still“ sind. Dieses Oxymoron, also die Gegenüberstellung zweier sich eigentlich widersprechender Begriffe, verdeutlicht das Dilemma der Betroffenen. Sie sind verzweifelt und können oft nicht um Hilfe bitten. Sie sind deshalb darauf angewiesen, dass jemand ihre Situation bemerkt. 

Im letzten Absatz des Songs wird noch einmal verdeutlicht, dass es sich um eine Krankheit handelt, die wirklich jeden betreffen kann. Außerdem wird noch ein Appell an Außenstehende gerichtet: „Wir erwarten nicht, dass ihr versteht, wenn ihr nicht betroffen seid, doch es wär ein erster Schritt, hättet ihr etwas Verständnis für das Leid.“. 

Fazit: 

Es ist ein heikles Thema, an das sich Leidbild mit diesem Song gewagt haben, aber es ist auch ein sehr wichtiges Thema. Die Band hat es geschafft, die Problematik so im Song zu verarbeiten, dass man sich in die Gefühlswelt betroffener Personen hineinversetzen kann. Da das Lied dabei nicht karikativ wirkt, spricht es sowohl Betroffene, als auch Außenstehende an. Der ersten Gruppe wird vermittelt, dass sie nicht alleine sind und sich nicht zu schämen brauchen.

Die Außenstehenden werden dazu aufgerufen, genauer hinzusehen, denn oft erkennt man Betroffene erst auf den zweiten Blick. Wichtig ist übrigens, sich ihnen dann nicht aufzudrängen und sich gutgemeinte Ratschläge wie „Reiß dich mal zusammen“ zu sparen, denn das würde die Isolation letztlich noch mehr verstärken. Wichtig ist, dass diejenigen wissen, dass sie nicht abgelehnt werden und dass sie in ihrem Leid nicht alleine sind. 

Redaktionell verantwortlich für diesen Artikel:

Über mich:
Ich, 37 Jahre alt, bin wie die meisten hier mit der Musik von „Die Toten Hosen“ und „Die Ärzte“ groß geworden. Mein erstes Rock-Konzert (von Unantastbar) besuchte ich dann aber trotzdem erst vor zwei Jahren. Da mich bei diesem Konzert das Fieber gepackt hat, trifft man mich seitdem immer wieder auf Konzerten an – ich hab ja so viel nachzuholen! Das ist mein Ausgleich zu meinem Alltag mit Studium (auch spät angefangen) und Seniorenbetreuung. Mein Motto: Besser spät, als nie!

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